Tilia 01
Tilia 01

Begegnung mit einem Baum

 

 

 

 

Der Feldweg führt von der Straße auf ihn zu, vorbei an einer kleinen Pferdepension und der Kneippanlage. Gleich neben dem folgenden Linksverlauf, dort hat er seine Wurzeln.

 

Ein Titan, hoch wie zwanzig erwachsene Menschen. Deutlich fortgeschritten wirkt sein Alter, gleichwohl vom Fristen eines hölzernen Greises noch weit entfernt.

Sein Umfang misst fünf ausgebreitete Arme von Vorschulkindern. Genau über deren Köpfe teilt sich der Rumpf der Linde, wo drei Stämme das Wachsen fortsetzen und später in Geäst und Blattwerk sich auflösen.

 

Etwas auf Distanz gegangen und genauer hingesehen, gibt die Krone einen Makel zu Erkennen. An einer Stelle ist es, als fehlten Äste oder gar ein weiterer Stamm.

 

Von der Straße aus ein vollkommener Baum, doch der Standpunkt auf der Gegenseite legt eine andere Ansicht nah. Eine mannsgroße Narbe unten beim mittleren Schaft und nackte, freigerissene Fasern vom inneren Holz, umgeben von einem rüstigen Wulst.

 

Es muss einen vierten Stamm gegeben haben. Abgetrennt, amputiert der Trieb, der die Krone vollendet hätte, mit Blättern verdichtet, mit unzählbaren Blüten, daraus dann die Nussfrüchtchen mit Flügel.

 

Zehn, zwanzig Jahre oder weiter liegt der Vorfall offenbar zurück. Schneelast, Sturm oder Mensch, wer weiß, man könnte hier jemanden fragen.

 

 

Ist es nur ein Baum mit einst mehr Möglichkeiten, nur ein Baum, in seiner Vollständigkeit erschüttert, ein Baum, beschnitten in seiner Lust sich zu entfalten und Berge von Licht einzusammeln?

 

Eigene Verluste und verpasste Momente steigen in den Sinn, bereute Entschlüsse und erzwungene Entscheidungen, eingeschränkte Fähigkeiten, Enttäuschungen und endgültige Abschiede.

 

Mit der Zeit wuchs und wandelte sich die Krone, verdeckte bald die Lücke. Längst fügt sich die Wunde ein ins Bild, mit gleichen Farben und dunklen Flecken, sogar flauschiges Moos siedelt schon darin.

 

An seinem Fuße in Plastikfolie eingemachtes Heu und für Öfen geschlagene Äste und Stämme. Dazu welkendes Laub und Früchte vom letzten Herbst.

 

Seine Rinde ist rau und furchig, manchmal wie ein Canyon. Urlaubsgäste und Klinikbesucher, unterwegs auf der Straße, wie sollten sie auch bemerken den Umstand dieser eigenartigen Kreatur.

 

 

Georg Gütter