Warum unscharfe Bilder?

Es ist noch nicht zu lange her, dass in den Städten der gesamte Straßenverkehr auf der Oberfläche verlief und von außen sternförmig zum Zentrum hin geleitet wurde. Umgehungsstraßen machten noch keinen Sinn. Die Stadt verstand sich als eine autonome Gesellschaft, als ein Zentrum in der Welt. Immer schon ist sie ein Lebensraum gewesen, den der Mensch auf einer größeren Fläche für sich selbst gestaltet und definiert hat.

 

Inzwischen wird das Leben in den Städten weitgehend vom Datenverkehr bestimmt. Überregional gesteuert, sind es Mobiltelefone, Internet und Bildschirmgeräte in den Schaufenstern und überall im öffentlichen Leben, die den modernen Menschen bei seinen Vorhaben und Aktivitäten in der Stadt befördern. Für viele ist diese Entwicklung ein Gewinn an Gestaltungs-möglichkeiten.

 

Andererseits steht dem ein Verlust an Überschaubarkeit, Langsamkeit und Raum gegenüber. Unsere Wahrnehmungs-vorgänge werden massiv durch Reizüberflutung  beansprucht. Wir empfinden und beschäftigen uns mit Dingen, die uns eigentlich nicht interessieren. Die Datentechnik bringt Menschen dazu, immer mehr und noch mehr zu erledigen und zu leisten.Zudem gehen vertraute Plätze oder Häuser verloren, wenn Städte sich verändern, um sich zu modernisieren. Lieblingsorte müssen Baumaßnahmen weichen. Erinnerungen und Werte verwaisen.

 

Stress ist keine Erscheinung der heutigen Zeit. Stress hat es immer schon gegeben. Und Menschen, die leben wollen, reagieren gewöhnlich darauf. Sie schaffen sich Orte der Muße und Beschaulichkeit, errichten Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Plätze für Spiele und körperliche Betätigungen gibt es in Städten schon sehr lange. Und eine besinnliche Form der Fortbewegung, das Flanieren, ist in den Großstädten des 19. Jahrhunderts entstanden. Inzwischen sind mehrere Veröffentlichungen darüber erschienen. Es gibt sogar eine deutsche Website über die Kultur des Flanierens.

 

Stellt man eine Kamera auf Automatik, dann sind die Bilder in der Regel gut - technisch gesehen aber nur.  Genau genommen entsprechen sie nicht dem, was wir Menschen sehen und wahrnehmen! Immer wieder wird über die Grenzen diskutiert, in denen eine Kamera mit dem menschlichen Sehsystem verglichen werden kann. Kameras sind nur hochspezialisierte, lichtempfindliche Messgeräte, bildgebende, technische Meisterwerke. Doch sie vermitteln uns eine Wirklichkeit, die wir im Grunde nicht so erleben können. Durch die Technisierung des Lebens haben wir uns aber an Maßstäbe gewöhnt, welche die Technik uns auferlegt. Z.B. eine Standardfotografie. Sie ist ausgewogen in Belichtung und Farbgebung und alle wesentlichen Bildpartien erscheinen scharf. So können wir das Bild bequem und in Ruhe betrachten.

 

Als Faustregel gilt eine Belichtungszeit von kürzer als 1/50 Sekunden, wenn man ohne Stativ fotografiert. So wird ein unscharfes Bild durch Verwacklung vermieden. Bei der Verwendung von Teleobjektiven wird diese Zeit noch kürzer. Deutlich wahrnehmen können wir Menschen Bilder von solch kurzer Dauer allerdings nicht mehr.

 

Wer sich an die Fernsehgeräte mit Bildröhre erinnert, kennt vielleicht noch das Flimmern der Mattscheibe, wenn man auf einen Punkt neben dem Gerät blickte. Im Auge wurde das Fernsehbild nun auf einem Bereich neben der Netzhautmitte abgebildet. Dort ist ein scharfes Sehen nicht möglich. Sah man wieder auf den Bildschirm, der jede 1/50 Sekunde ein neues Bild aufbaute, dann verschwand das Flimmern. Wollte man wissen, warum das so ist, war die Antwort, unsere Wahrnehmung ist zu träge.

 

Der Bereich neben der Netzhautmitte liefert kein scharfes Bild. Dafür ist er empfindlicher und besser geeignet, um Veränderungen wahrnehmen. Das ist von Vorteil, wenn sich etwas bewegt oder wenn wir uns selbst bewegen. Auch können wir nur wenige Zehntel-Sekunden lang einen Punkt scharf betrachten, wir müssen dann auf einen anderen Punkt fokussieren.

 

Konzentrieren wir uns auf einen interessanten Punkt, dann nehmen wir seine Umgebung zwar auch wahr, aber unser Auge blendet sie etwas aus. Ansonsten wäre z.B. das Lesen sehr mühsam. Mit etwas Anstrengung können wir deshalb auch Gegenstände im Schatten betrachten, wenn das Umfeld von Licht überflutet ist. Und das, was wir sehen, verarbeitet unser Gehirn weiter. Wir nehmen Schaufensterinhalte wahr oder Menschen, die uns entgegenlaufen, sehen aber in Gedanken noch das, was wir kurz vorher erkannt haben. Bilder werden zu Empfindungen, Gedanken und Assoziationen und überlagern sich mit anderen Bildern. 

 

Wir Menschen nehmen die Wirklichkeit anders wahr als eine Kamera. Diese zeigt uns ein künstliches, vereinfachtes Bild von der Welt. Kurze Belichtungszeiten täuschen, sind gut für eine unbewegte Realität. Aber gerade das Leben in der Stadt ist nicht statisch. Immer bewegt sich irgendwo etwas. Das Leben selbst ist Bewegung! Man kann es in einer Stadt während einer Zeit der Muße erleben. Etwas fließt, verändert sich ständig, ein Fluss von irgendwas, das antreibt und das mit dem Leben zu tun hat. In den Morgenstunden, wenn eine Stadt erwacht, wenn hier und da Menschen ihre Häuser verlassen um zur Arbeit zu gehen, bevor Betriebsamkeit die Straßen und Plätze erfüllt, da ist es am besten spürbar. Eine leise Spannung baut sich in dieser Zeit auf. Jeder kann es erleben.